So toll war er dann doch nicht, der erste Kuss.
Abgesehen von der Romantikfreiheit des Ortes und der ausscheidungsaffinen Situation rezensierte er ihn vernichtend. Sie schob sofort ihre Zunge zwischen seine Lippen. In seinem klar abgesteckten Bewertungsrahmen für den perfekten ersten Kuss war das nur eine durchschnittliche Leistung. Durch die Überrumpelung hatte er zunächst gar nicht gemerkt, dass der Kuss - technisch gesehen - eben doch doof war. Die Symbolik und der Zeitpunkt waren großartig, wurden aber durch die schlechte Ausführung böse konterkariert.
So ein erster Kuss musste einer ausgeklügelten Choreographie folgen, um exzellent in der Gesamtwertung abzuschneiden. Er musste sich entwickeln, einer eigenen Dramaturgie folgen. Sofort die Fressen aufeinander zu pressen, augenblicklich die Zungen verschlungen, das war doch schlechter Anfänger-Stil.
Fahrlässig thematisierte er seinen Bewertungs-Wahn, als sie im offenen Mustang saßen, umgeben von kantigem Stahlbeton im Parkhaus.
"Du kannst alles zerreden!" war ihre Reaktion.
"Ich tu's einfach!"
"Kein Risiko!"
"Kein Kontrollverlust!"
"Du suchst Perfektion, um das Risiko zu minimieren!"
"Vielleicht! Aber das ist das Dilemma. Der Mensch in seinem Streben nach Kontrolle über alles und jeden kaschiert nur seine Unfähigkeit, sich selbst und damit seinem der Natur geweihten Organismus grundlegenden Gesetzen zu entziehen."
Geil, das war ihm einfach so eingefallen. Er lauschte stolz dem Nachhall seines Allgemeinplatzes.
"Lernst Du solche Sätze eigentlich auswendig?"
"Ach, halt's Maul, Tara! Jetzt zeig ich Dir, wie's geht!"
Und er zog sie rüber. Zu sich auf den Fahrersitz. Auf den Thron der Kontrolle. Und zeigte es ihr. Den perfekt choreographierten Kuss - mit erstklassiger Technik, beste Haltungsnoten. Eine klinische Perfektion, deren Kittel die Emotionslast bestens kleidete.
Und sie schmolz dahin.
Bis sie wieder redete.
"Ist Dir seit gestern eigentlich noch gar nicht der Gedanke gekommen, dass ich vielleicht überhaupt nicht existiere?"
"Ich frage mich eher - und das nicht erst seit gestern - ob ich überhaupt existiere."
"Bämm!"
"Wenn ich die Möglichkeit der eigenen Nichtexistenz stets berücksichtige, verliert der Schrecken sein Leben!"
"Jaja, Umkehrschluss und so. Ich mag Deine Gedanken. Die sind so morbide. Die schlucken einfach Licht, ohne dass sie die Energie irgendwie nutzen können. Oder wollen. Du bist ein böses Wesen, mein Held! Du bist der Anti-Mensch. Du hasst ganz tief! Und Du liebst ganz tief. Du bist ein echt krankes Arschloch!"
"Meinst Du, es wäre jetzt schon zu früh?"
"Für was zu früh?"
"Dafür, Dich zu lieben, Tara!"
"Nein, es ist nie zu früh, wie es auch nie zu spät sein dürfte! Und falsch machen kannst Du eh nix, da ich ja gar nicht existiere!"
"Da Du möglicherweise gar nicht existierst, weil ich ja... Ach, leck mich doch. Es reicht! Ich will jetzt nur noch Deine Stimme hören!"
"Jaja, Du willst nur Dich selbst reden hören. Durch mich. Und Du willst, dass ich Dich weiter anhimmele. Dass ich total fasziniert von Deinen ach so unikaten Weisheiten bin. Du willst mich als Spiegel Deiner Eitelkeit! Fatzke!"
Wow, sie sagte tatsächlich Fatzke! Den Begriff hatte er lange schon nicht mehr auf dem Einkaufszettel. Den müsste er eigentlich gleich mal in seine Kladde übernehmen, um ihn nicht wieder sofort im Kurzzeitspeicher zu übermalen. Aber das würde ihn wieder rausbringen aus der Wortkontrollmacht. Save as fatzke.txt.
"Ja, das will ich!"
"Kinder mit nem Willen kriegen was auf die Brillen!"
"Willst Du mich dominieren, oder was?"
Toll, mit der Frage hatte er sich selbst den Bärendienst einer Trapperfalle erwiesen.
"Was?"
"Ich werde mich anpassen!"
Mann, halt bloß die Fresse, Du gibst dem Affen zuviel Futter.
"An mich?"
"Ja!"
"Hmm. Ich bin es, die sich an alles und jeden anpasst!"
Sie spielte also den Ball zurück - faire Gesprächsgeste.
"Ne tolle Voraussetzung!"
"Geil, das ist doch die absolute Möglichkeit der Unmöglichkeit. Wir mäandern nur noch so aneinander rum. Geben unsere Identitäten total auf. Wir zerschmelzen einfach so. Zu nem Klumpen!"
Genau das befürchtete er. Er musste unwillkürlich an die Worte eines Freundes denken, den er seit der Grundschule in ziemlich gleichmäßigen 2-Jahres-Etappen traf. Treffen, die stets mit einem gut euphorisierten Gefühl endeten. Und mit dem Bedauern, dass die Freundschaft auf ihren Zweijahres-Rhythmus bestand. Dieser Freund war einer der wenigen, dessen Ratschläge auch nach den Treffen weiter keimten. Er war so was wie der außenpolitische Sprecher des kollektiven Beziehungs-Gedächtnis. Er sagte damals im Zuge einer scheiternden Beziehung: "Freiräume! Man muss die Kontraste stets schärfen und kantig schleifen. Bloß nicht den Freundeskreis zusammenlegen. Immer wieder raus und Abstand herstellen, um sie und die Beziehung aus der Ferne betrachten zu können! Bloß nicht zu einem Klumpen verschmelzen!"
Ein guter Rat, common sense. Aber hier und jetzt war er nichts wert! So gar nichts. Denn das hier war anders. Und der Klumpen fühlte sich toll und richtig an. Jetzt kam alles zusammen, alles fügte sich, sie vervollständigte das Mosaik. Oder das Mosaik vervollständigte sie. Das konnte man nicht so genau wissen.
"Wir führen nix zu Ende!" sagte er trotzdem.
"Kein Gespräch, ne?"
"Ja!"
"Hmm. Weißt Du, eigentlich hat das doch eh keinen großen Sinn. Dieses groß philosophische Pseiko-Gesabbel."
Sie sagte tatsächlich "Pseiko" und nicht Psycho. Ein guter Wesenszug, entschied er.
Allerdings redete sie weiter.
"Du weißt doch selbst, dass Deine Gedanken sehr eindimensional sind. Sie gaukeln eine Tiefe vor, aber anstatt die Untiefen zu umfahren, würdest Du bei Überprüfung Deiner Konstrukte stranden."
"Ist das so?"
"Ja, das ist so!"
Sie ließ sich also noch immer nicht blenden. Die rosarote Brille verweichlichte keine Schwarztöne. Er konnte zwar tollen Philosophen-Smalltalk, aber den nur oberflächlich. Da er ungern las - oder einfach zu faul dazu war, konnte er auch nicht mit Zitaten beeindrucken, die er mühselig auswendig gelernt haben könnte. Er redete sich selbst damit heraus, dass das Übernehmen fremder Gedanken die eigentliche Faulheit ausmachte, die einer Selbstweiterentwicklung entgegenstand.
"Du hast recht, das ist tatsächlich so!"
"Du ermüdest mich!"
"Wann zeigst Du mir mehr von Dir?"
Schon wieder war er stolz, zur richtigen Zeit die richtige Frage zu stellen. Jetzt bekam das Mosaik neuen Lücken-Kitt.
"Wenn Du mit mir geschlafen hast!"
Ah, nein! Nicht schon wieder! Kitt-Tube verstopft.
"Ich kann nicht mit Dir schlafen!"
"Aber lieben kannst Du mich?"
"Könnte ich!"
"Du spielst Dich hier dauernd auf wie so ein zeitbefreiter unnahbarer Protagonist bei Jarmusch! Aber Du bist in keinem Film. Die Kamera läuft nicht mit. Die geifernde Bildungs-Bourgeoisie feiert Dich nicht im Feuilleton! Du haust Sätze raus, die man zunächst in Granit meißeln könnte - aber wenn sie sich setzen, dann reicht ein fader Augenaufschlag - und weggeblasen sind sie. Vom Zahn der Kurzzeit wegkorodiert. In Nullkommanix!"
Scheiße, er wünschte sich nichts sehnlicher, als von Jim Jarmusch ausgedacht worden zu sein. Kaffee und Zigaretten waren Grundnahrungsmittel - und Tauben mystifizierte er regelmäßig. Während seine direkten Human-Peers mit "Limits of Control" nichts anfangen konnten, machte er sich gar nicht die Mühe, einen symbolistischen Sinn für sich zu extrahieren, sondern fühlte sich einfach in der Komposition der Elemente heimisch. Die Sicherheit einer Gebärmutter. Er begehrte, das Leben als eine Aneinanderreihung von Kulissen, Kamerafahrten und Dialogen, die sich tiefsinnig lasen, doch keinen Erkenntnisgewinn beinhalteten, zu verstehen. Er sehnte sich nach einem Leben in einem Roadmovie ohne Ziel und ohne Katharsis. Ein vielleicht buddhistischer Moment, aber mit Religion oder gar Spiritualität hatte er es nicht so. Aus Gründen.
"Du redest, als würde ich mich selbst kommentieren!" gab er langsam auf.
"Du hörst Stimmen!"
"Deine Stimme!"
"Du liebst mich!"
"Ja!"
"Ha, siehste! Jetzt schon! Weil ich das ausspreche, was Du denkst? Weil ich jetzt zum Alter Ego werde? Weil ich der Kritiker in Deiner gespaltenen Persönlichkeit bin?"
Blabla!
"Wir sollten trinken!"
"Saufen!"
"Ja!"
"Und dann ficken!"
"Nein!"
"Was ist Dein Problem mit Sex?"
"Ich habe kein Problem mit Sex!"
"Doch!"
"Nur weil ich jetzt noch nicht mit Dir schlafen möchte, machst Du mich zum Problembären?"
Sie prustete und gluckste auf ihre derbe und doch so unwiderstehliche Art. Für ihn absolut unwiderstehlich.
Dieses aggressive Gefühl lümmelte bequem in seiner Magengegend. Diese Scheiß-Liebe! Nicht nur blinde Verliebtheit. Er konnte da sowieso nicht trennen. Er liebte diese nervige Frau. Dieses großartige Mädchen. Jetzt schon! Verdammt, sie war alles, was er sich gewünscht hatte.
Und eigentlich war er ganz weit weg geflohen von der ganzen Lebensscheiße, mit der er sich nie mehr versöhnen wollte, weil sie ihre Hand auf dem Rücken verbarg. Wenn sie denn überhaupt über eine Hand verfügte, die man versöhnlich schütteln konnte.
Er war auf das freitödliche Finale Grande eingestellt. Er wollte doch nur dem Leben komplett und konsequent entsagen nach der sinnverweigernden Odyssee. Auf einer neuen klar strukturierten Miniatur-Odyssee. Road-Movie mit Abspann, die jeden außer ihm ratlos in den roten Plüschsesseln zurücklassen würde. Und das alles in der lethargischen Ruhe ewiger Kamerafahrten.
Doch sie knallte ihm eine Staumauer in seinen beschlossenen Selbstmord-Strudel. Dieses Mädchen, das er noch nicht mal vierundzwanzig Stunden kannte, zog ihn mit aller Kraft zurück ins Leben. Sie hatte sofort ihre Hand ausgestreckt und ihn gepackt, als er sie noch nicht mal sehen konnte. In die Liebe. In die Scheiß-Liebe, die sonst immer sein Verhängnis wurde. Dieses Mal würde sie ein Happy End haben. Das spürte er. Sie nahm ihn ein, sie hielt sich an ihm fest und schleifte ihn jetzt schon in eine Realität, die er bereits als Illusion abgespeichert hatte. Sie dockte an Rezeptoren an, die er selbst bis jetzt noch nicht an sich ausgemacht hatte.
Also doch noch Katharsis.
Kitsch!
Vor allem fühlte er sich in all seinem Laberdreck, den er über sie gnadenlos ausschüttete, zum ersten Mal verstanden. Irgendwie bestätigt. Und ihre Konter lösten keine sicherheitsgierenden Orientierungsreaktionen aus, brachten ihn nicht dazu, das Stadttor noch vor Toreschluss zuzuschmettern und die Zugbrücke einzuziehen.
Sie nahm ihm die unerschütterliche reaktionäre Ernsthaftigkeit. Sie ließ die zynische Schwere ironisch abschlacken.
Sie stand nicht auf der anderen Seite. Sie bedrohte nicht. Sie war wie er.
Sie war er!
"Dann lass uns doch heiraten!"