Er lehnte sich zurück, löste die Sitzarretierung und sank gen Rückbank. An der Querstrebe der fadgrauen Betonwand über ihm flackerte eine nackte Neonröhre, die Elektrizität konnte das Leuchtgas nicht dazu zwingen, die volle Leuchtkraft zu entfalten. Vielleicht wollte das Gas auch einfach nicht und wehrte sich gegen die vollständige Entflammung.
Im Mustang-Cabrio. Mit offenem Verdeck. Noch immer im Parkhaus. Nicht einmal 24 Stunden waren vergangen, seitdem sie in seine festverzurrte Gedankenwelt eingebrochen war. Er kannte nicht einmal ihren richtigen Namen. Sie war ein Phantom, dem er einen Namen geben musste, er füllte sie in seiner Vorstellung mit Leben. Mit Eigenschaften. Mit Gefühl. Er nahm sie wahr. Sie war neben ihm. Er konnte sie spüren, wenn er seine Hand ausstreckte. Er konnte sie riechen. Er konnte sie sehen.
Aber existierte sie in der Form, die er in seinem Bewusstsein zusammenknetete?
War sie so real, wie sie sich anfühlte?
Oder waren die Gefühle, die er so stark für sie hegte, nur Projektionen von Emotionen? War sie nur ein Platzhalter für einen Willen, den er bekämpfte? War sie eine Plastik, um dem unvermeidlichen Lebenswillen ein Gesicht, eine Form zu geben?
Konnte er auf ihre Existenz nur auf Grundlage ihres Geruchs, ihres Aussehens, ihres Klanges schließen?
War sie eine Hülle, die er mit Leben füllte?
Oder war sie es, die seine Hülle aufblies?
"Und?" fragte die lebensgefüllte Hülle.
"Was?" versetzte er heftig, seines Gedankengangs beraubt. Sie zog und zerrte an ihm. Und brachte ihn mehr und mehr in Form.
"Heiraten wir?"
"Okay!"
"Prima!"
"Also erstmal will ich die Key-Deers sehen. Dann können wir meinetwegen nach Vegas und heiraten!"
"Und dann ficken!"
"Ja, dann können wir miteinander schlafen!"
"Ist das so'n religiöses Ding bei Dir? Dass Du keinen Sex vor der Ehe haben kannst?"
"Quatsch, Religion geht gar nicht!"
"Ach! Und warum willst Du mich dann heiraten?"
"Ich will es nicht, ich mach es einfach, weil Du es eben vorschlugst! Und außerdem kann man das ja mal ausprobieren!"
"Das Heiraten?"
"Ja!"
"Fein!"
"Gar nichts fein! Was für ein mieser Heiratsantrag!"
"Genauso mies wie der erste Kuss?"
"Ungefähr so."
"Dir kann man auch gar nichts recht machen. Du bist ein Scheiß-Perfektionist. Und sicher kannst es Dir nicht mal selbst recht machen. Du kannst es keinem recht machen. Mach Dich mal locker, Du Wichser!"
"Ach, fick Dich, Tara!"
"Dann fahr mal zu - ich werd's mir dabei machen!"
Kaum hatte er den Motor angelassen, hatte sie die Knöpfe ihrer Jeans geöffnet und ließ die rechte Hand zwischen ihre Schenkel gleiten.
Er kommentierte das nicht. Er blickte starr geradeaus, als er den Mustang in die Straße einbogen ließ.
Sie wichste neben ihm.
Er fokussierte den Weg. Das Ziel. Heute noch auf die Keys. Auf den Highway und immer geradeaus. Auf die Brücken, die die Inseln bis zum südlichsten Punkt der USA verbanden.
Sie stöhnte neben ihm.
Key-Deers! Vielleicht erstmal nur nach Key West und dort die Nacht verbringen.
"Manno, jetzt guck doch mal!"
Er starrte nach links und beobachtete die Menschen in einem Diner an einer beliebigen Ecke irgendwo in den USA. Sie fraßen und laberten hinter den Fenstern. Ein schönes Diner. Mit Metallfassade. Die glänzte in der Sonne.
"Willst Du nicht auch mal anfassen?"
Die Ampel ergrünte, und er versuchte, den ersten Gang einzulegen. Mist, Automatik. Ein Ding weniger, um das er sich kümmern konnte. Kein Getriebe, das ein wenig Ablenkung verschaffte. Automatisiert. Alles war automatisiert. Reine Routine. Die Heirat eine mechanische Pflicht. Er konnte keine Gefühle abrufen, als er an eine mögliche Zeremonie dachte. Das Heiraten war ihm egal. Und aus solch einer Gleichgültigkeit heraus konnte man gut heiraten. Gleichgültigkeit war die beste Voraussetzung für eine erfolgreiche Ehe. Erfolgreiche Ehe. Ehe-Erfolg? Wie bemüht doch die menschliche Wortmaschinerie zwischenmenschliche Vertragsschließungen mit emotionaler Marmeladenfüllung aufzuplustern versuchte.
"Du bist echt nicht normal!"
"Mein Gott, jetzt lass Deine Fotze mal in Ruhe!"
"Spießer!"
"Schlampe!"
"Du bist ein frigider Sack!"
"Ich werd Dir Dein kleines Pfläumchen noch stopfen, keine Sorge!"
"Davon gehe ich aus!"
"Dann nerv nicht und sei gemütlich."
"Hab eh keine Lust mehr."
"Ich bin hier nicht rübergeflogen, um was zum Ficken zu finden. Ich bin hier, um zu fahren."
"Aha!"
"Ja, aha, blabla! Du machst mir meine Pläne kaputt. Und so ein Heiratsding hatte ich auch nicht vor!"
"Warst Du schon mal verheiratet?"
"Nein!"
"Dann wird's doch Zeit!"
"Ja, wir heiraten ja. Aber mir bedeutet das nichts!"
"Mir auch nicht!"
Und dann kehrte wieder Stille ein.
Er betrachtete immer wieder verstohlen ihr Konterfei. Er gewöhnte sich an sie. Sie blickte starr in den Rückspiegel.
"Irgendwie ist das komisch." murmelte sie.
"Hm?"
"Ja. Das, was hinter uns liegt, wird immer kleiner. Und trotzdem wächst seine Bedeutung. Und irgendwann fahren wir wieder vorbei, erkennen es nicht wieder, wissen aber um die Bedeutung."
"Was für ne Bedeutung soll das denn haben? Und welches "das" eigentlich? Da sind nur Bauwerke und Pflanzen. Beton und Natur."
"Das hat alles Bedeutung!"
"Welche denn? Das ist doch Wischiwaschi."
"Manches holt einen wieder ein, egal, wie viel Gas man gibt. Und dann überholt es einen. Und schließlich steht es plötzlich vor einem. Massiv. Ohne dass man ausweichen kann. Und dann knallt man dagegen. Und alles ist voller Blut."
Er sah sie an. Sie wandte ihren Kopf und fixierte ihn. Eine Träne verließ das rechte ihrer wässrigen Augen.
"Weißt Du was? Ich habe Angst!" sickerte es aus ihr heraus.
Seine rechte Hand lockerte den festen Griff am Steuerrad, löste sich, suchte ihre linke Hand und fand sie. Fester Halt.
"Ich auch!"
"Das ist gut!"
Es war bereits dunkel, als das Blut des Pelikans die Windschutzscheibe besudelte, nachdem er dem Seevogel nicht mehr ausweichen konnte.