Sonntag, 8. September 2013Kapitel 16: Die Spur von Glück
Der Typ mochte so um Ende 40 sein, schätzte er wagemutig, wohlwissend, dass sich seine Altersschätzungen stets grotesk von der Realität unterschieden.
Dürr mochte der Typ sein, das weiße T-Shirt ohne Druck umwehte ihn wie die Umhänge die Mörder Cäsars. Drunter eine dreiviertel lange schwarze Cargohose, keine Schuhe, keine Socken. Halblanges frisch gewaschenes Haar, dunkelbraun, recht ordentlich das gehetzt wirkende Gesicht einrahmend. „Gut, endlich! Ihr seid wieder da!“ Eine Mischung aus Krächzen und heiserem Auswurf umspielte die manische Stimme. So als hätte der Typ lange nichts mehr artikuliert. Er und sie sagten erst mal nichts, perplex ob der Überraschung. Das fiel dem Typen nicht weiter auf, seine Stimme nahm menschlichere Klangfarben an, als er in hektischem Tempo weiterhaspelte: „Ich hatte schon Angst, dass Ihr für immer weg seid. Dass ich für immer hier bleiben muss. Dass das hier das Ende ist. Das Ende. Das verdammte Ende. Alle weg. Keiner da. Wo seid Ihr nur gewesen?“ Er fand als erstes Worte, die er dem Eindringling entgegenwarf: „Wir sind nicht für Dich da!“ „Gut, dass Ihr da seid. Ich dachte wirklich, dass die Menschen alle weg sind. Alle weg! Allesamt verschwunden. Und nur noch ich hier übrig. Was hätte ich machen sollen? Es hätte irgendwann nichts mehr zu essen gegeben. Ich komm hier ja nicht weg. Ich komm hier einfach nicht weg!“ „Geh über die Brücke!“ Er war genervt, wollte mit dem Typen nichts zu tun haben. Hier stimmte ganz gewaltig etwas nicht. Der Typ bedrohte. Er war eine absolute Bedrohung. Warum konnte er nicht einfach gehen? „Über die Brücke?“ Der Typ lachte verächtlich. Lachte ihn regelrecht aus, als würde er das große Ganze nicht verstehen. Arroganter Wichser, dachte er. Geh weg! „Über die Brücke? Nein, das wollen die doch nur. Und dann wird die Brücke immer länger und hört nie mehr auf. Und ich gehe und gehe und komme nicht an. Und wenn ich zurückgehe, wird sie wieder länger und länger und ich komme nicht an. Verstehst Du das nicht? Ich kann nicht auf die Brücke! Die Menschen verschwinden dann wieder alle. Und ich laufe und laufe. Und da ist nur Wasser um mich herum. Vor mir die unendliche Brücke, hinter mir die unendliche Brücke. Und ich komme nie an. Und nie wird mir ein Mensch begegnen. Die Menschen verschwinden. Sie verschwinden alle. Und kommen nie wieder. Es geht nicht. Die Menschen gehen weg! Alle gehen weg! Und ich bleibe. Ihr müsst mich wegbringen! Schnell! Ich will nicht allein sterben. Die Menschen, sie verschwinden einfach. Versprecht mir, dass Ihr nicht verschwindet!“ Bevor er dem Typen entgegnen konnte, dass er keinerlei Interesse verspürte, ihn auch nur in sein Zimmer zurück zu begleiten, hörte er sie neben sich mit einer ruhigen, gefassten, vor allem einfühlsamen Stimme sagen: „Wir bleiben! Wir verschwinden nicht, Du kannst uns nicht verlieren!“ Und sie lächelte den Typen an. Offen. Freundlich. Wie sie IHN angelächelt hatte nach seiner Offenbarung. Das war sein Lächeln. Das hatte sie ihm geschenkt. Es gehörte ihm. Weil es doch etwas Besonderes zwischen ihnen war. Weil sie ihn liebte. Weil er sie liebte. Und nun warf sie es einfach so in den Dreck, warf es einem wildfremden wahnsinnig gewordenen Typen vor die zugegebenermaßen sauberen Füße mit akkurat geschnittenen Fußnägeln. Was sollte das? Sie war mit ihm hier. Sie hatte ihm ein exklusives Geschenk gemacht – ihre Empathie, ihr Mitgefühl, ihre Liebe. Und plötzlich bekam der Scheiß-Typ genau das Gleiche? Er spürte, wie sich alles in ihm zusammenballte. Eine unheiliger Cocktail, gemixt aus Misstrauen, Angst, Hass und Selbstzweifel, durchdrang ihn, vergiftete sein Blut, vernebelte sein Bewusstsein. Panik stieg in ihm auf. Mal wieder. Diese Scheißpanik. Diese Scheißüberforderung. Raus! Einfach nur raus! Hier stimmte nichts mehr. Sie stimmte nicht. Der Typ stimmte nicht. Hier war nichts richtig. Alles falsch. Diese Fotze. Sie hatte nur mit ihm gespielt. Jetzt zeigte sie ihm, wie austauschbar er war. Ersetzbar durch solch eine miese Gestalt, die nicht klar kam. Eigentlich war doch sie die Wahnsinnige. Sie war definitiv nicht normal. Sie verletzte ihn. Ja, sie tat ihm weh. Sie nahm ihm alles weg. Sie nahm ihm die Luft zum Atmen, sie nahm ihm alles. Den Sinn des Lebens. Warum hatte er sich gestattet, ihr hinterher zu jagen? „Kann ich bei Euch schlafen? Ich stör nicht. Wirklich nicht. Ich rolle mich vorm Bett zusammen. Ihr merkt gar nicht, dass ich da bin!“ Er wollte schreien. Er wollte diesen verdammten Typen anschreien. Ihn vor die Tür jagen. Er wollte schlagen. Er wollte diesen verdammten Typen zusammenschlagen. Diese jämmerliche Gestalt. Er verharrte in seiner ihm so eigenen und so gewohnten Starre. Er war wie gelähmt. Als würden sich feine dünne Stahlschnüre um seine Gelenke wickeln, seine Haut einschnüren – Stahlschnüre, die strahlenartig von seinem Körper hinweg zogen und zerrten und ihn zur schmerzhaften Bewegungslosigkeit verdammten. Der Puppenspieler hörte auf die Namen Wut und Angst. Ein durchaus zwiespältiger Kollege. So hoffte er inständig, sie würde ihn hören. Seine Stimmen, die sich in ihm lauthals heiser schrien. Sie musste ihn spüren. Sie musste es einfach tun. „Klar kannst Du bei uns bleiben“, bewies sie ihm das Gegenteil. Die Stahlfäden zerfetzten seine Haut, blutige Fetzen wehten lose im seichten Pazifikwind. Und plötzlich ließ der Puppenspieler los, und er spürte den Fall. Den unendlichen Fall ohne erlösenden Aufprall. Sie war es nicht! Sie war es nicht! Er richtete sich auf, verließ das Bett, verließ den Raum, verließ das Motel. Nur weg! Er hörte nicht, ob sie etwas sagte, ob der Typ etwas sagte. Er konzentrierte sich nur auf die Flucht. Nur weg. Draußen begann er zu laufen. Die Motel-Auffahrt verfolgte er zu ihrem Ursprung, bog auf den Highway ein und rannte, rannte, rannte, bis er die nächtliche Kernsiedlung Key Largos erreichte. Grelle Neonreklamen blendeten seine Augen und die Möglichkeit eines klaren Blickes. „Liquor Store“ blinkte nicht ganz so aggressiv. Und deutete ihm einen temporären Ausweg. Scheiß-Bourbon in Papiertüte, er ekelte sich vor sich selbst. Aber er hatte auch nichts Besseres verdient. Ein achtzehnjähriger Scotch aus Bowmore war in dieser Situation nicht verfügbar. Und auch nicht angemessen. Schottischer Single Malt Whisky wollte sich genossen, anerkannt, gewertschätzt wissen. Und nicht als psychopharmazeutisches Instrument der Flucht vor Wut und Angst und vor diffusen Puppenspielern missbraucht sein. Die Flasche Jim Beam war so jämmerlich wie angemessen, um aus der verschämten Papiertüte in seinen Sinn zu strömen und ihn zu vernebeln. In der Ecke eines dunklen Strandabschnitts. Hinter ihm die Lichter von Key Largo. Ernest Hemingway soff sich auf Key West fast zu Tode, vielleicht gelang ihm das vollkommen auf Key Largo. Niemand würde von seinem Ableben größere Notiz nehmen, es gäbe keine Abhandlungen über sein versoffen aggressives Leben, das erst seine literarische Genialität in die generationsüberdauernden Bahnen lenkte. Noch nicht einmal ein total verschrobener Feuilletonist würde aus reinem gutmenschlichen Alt-68er-Mitleid ihn in eine Linie mit Houellebecq, dem versoffenen soziopathischen Gnom verorten, den er so sehr anbetete und verachtete. Dabei – und dessen war er sich übersicher – hatte er alles Recht, zumindest der deutschen Stock-im-Arsch-Gesellschaft der durch stetige Kruppstahl-Propaganda verseuchten Ewig-Gehorsamen den Spiegel in die ewig freudlos lethargischen Fratzen zu schmettern. Er hasste die Idee des Menschen oder des Menschseins ebenso, wie er sich selbst hasste! Und er fühlte sich alles andere als genial. Das einzige Talent, dessen er sich gebetsmühlenartig, um nicht zu sagen mantrisch versicherte, war das Schreiben. Seine Texte hatten die Fähigkeit, Menschen zu berühren. Die Rückmeldungen umschmeichelten meist sein Ego wohlig. Das waren die wenigen Momente, die ihm gestatteten, sich seiner fragilen Stärke bewusst werden zu dürfen. Allerdings gelang es mit bestechlicher Regelmäßigkeit auch dem in grenzdebilsten Regionen anzusiedelnden Kritiker, diese Momente des größtmöglichen Selbstwirksamkeitsgefühls zu unterminieren und das Gebäude zum Einstürzen zu rütteln. Es gelang seinem Vater. Beim Gedanken an seinen Vater, von dem er nicht wusste, ob er ihm mit seinem Hass Recht oder Unrecht zuteil werden ließ (schließlich räumte er diesem absolute Bewertungsmacht ein), musste er unwillkürlich an das Bild des glänzenden Revolvers in seiner Hand denken. Eine gedankliche Manifestation, eine innere Stimme: „Töte jemanden, bevor Du Dich tötest!“ Das Echo dieses neuen Mantras, das seinen Verstand übernahm, ließ ihn hochfahren. Er blickte sich unsicher um. Hatte jemand etwas von seinen lauten Gedanken mitbekommen? Und war dieser neue Gedanke, der sich wie ein Bandwurm einzunisten drohte, bedrohlich oder erleichternd? Wenn er selbst nicht an das Leben glaubte, hatte er dann nicht jedes Recht, das Leben der Individualisten, die sich an ihm versündigt hatten, indem sie ihn zeugten, auszulöschen? Hatte er nicht jedes Recht, die Menschen, die ihn in ein ungewolltes Leben gezwungen hatten, ohne sich einen Dreck darum zu scheren, ob er es wollte oder nicht, auszulöschen? Hatte er selbst Angst vor dem Tod? Oder gab er sich dem Tod deswegen nicht preis, weil er insgeheim wusste, dass sein Tod irgend jemandem schaden konnte? War die Lösung die Herauslösung aus sämtlichen sozialen Systemen, denen er sich pflichtbewusst unterworfen hatte? Er war auf einer Reise, dessen Fluchtcharakter ihm mehr als bewusst war. Er hatte in Deutschland Menschen zurückgelassen, die sich Gedanken um ihn machten. Ganz diffus war er sich auch dessen bewusst. Menschen, die Nachforschungen anstellen würden, wenn er seinen Rückflug verfallen lassen würde. Nicht, dass er darauf erpicht war – aber es gab diese Menschen, die seine reine Existenz nicht nur anerkannten, sondern aus ihr auch Kraft und sogar Liebe schöpfen konnten. Kurz: Es gab Menschen, die sich aus ihm etwas machten. Und denen sein Ableben Schmerzen zufügen würde. Seinen Vater schloss er von der Möglichkeit dieser Gefühle aus, er würde nur ein triumphales Gefühl („Mich überrascht das nicht, das habe ich so kommen sehen!“) erleben, ganz dem eigenen überzogenen Selbstwert dienlich. Seine Mutter wäre wirklich im Innersten getroffen. Und sofern sie nicht längst komplett innerlich zerbrochen war und nur noch die letzten flüchtigen Momente eines allgemein akzeptierten Glücks mitnahm, wäre es der Moment, in dem ihr Leben endete. Daraus machte er sich nicht mehr viel, was ihn genau in diesem Moment mit neuer Überraschung erfüllte. Was war er den Menschen nur schuldig? Er war pflichtbewusst. Er tötete sich selbst nicht wegen seines Pflichtbewusstseins. Der Pflicht, für diese anderen Menschen zu funktionieren. Der Pflicht, für ihr Weltbild zu funktionieren und dieses nicht ins Wanken zu bringen. Sein Freitod würde diese Menschen mit Fragen konfrontieren, die sie, ohne ihn getroffen zu haben, sich niemals hätten stellen müssen. Sie müssten ihre eigene Existenz hinterfragen. Oder Trauer“arbeit“ leisten, um auch nach seinem Tod weiterexistieren zu können, ohne Fragen stellen zu müssen. Er verhedderte sich in dem Wollknäuel. War es wirklich so, dass seiner Existenz soviel Wert zugeschrieben wurde? Oder war das nur der Teil von ihm, der sich selbst zu überschätzen pflegte, um all den Demütigungen, die seine Existenz wie ein komplexes Neuronennetz durchzogen, einen kräftigen Widerpart zu installieren? Justitia ist blind! Und dann gab es sie! Und er sah sie vor sich und spürte die Spur von Glück. Ein leichter Wind zog auf, die Brandung verschaffte sich etwas mehr Gehör. Jedenfalls nahm er die anrauschende Geräuschkulisse wahr. Die Dunkelheit hatte sich längst seiner Umgebung komplett bemächtigt. Das Restlicht der Zivilisation reflektierte die Schwärze der Unendlichkeit des Ozeans. Unvorstellbare Wassermassen, die nur auf den Impuls warteten, um all das zu verschlingen, was Verderben brachte. Zahn um Zahn. Justitia ist blind! Die Bourbon-Flasche war inzwischen zu einem Drittel geleert. Er legte sich auf den Sand und betrachtete die Sterne über ihm. Er spürte die Bedrohung, die sich in der Dunkelheit zusammenbraute. Die Umgebung, das Setting war zu friedlich. Ein kleines Unterseebeben beschwingte das massive Nass. Schwingungen, die eine große Welle aussandten. Der Tsunami rollte auf den Strand und würde bald das sanfte Rauschen und Plätschern zu einem Tosen crescendieren lassen. Ihr Gesicht drängte sich in seinen Fokus. Und er spürte, dass sie ihn ins Leben zurückholte. Er liebte. Endlich. Sie war das Versprechen. Sie versprach endlich das, was er für sich längst ausschloss. Sie versprach ihm den gemeinsamen Weg zum Glück. Vielleicht war die Reise gar keine verbitterte Flucht mehr. Vielleicht war er gerade angekommen – und hatte es noch nicht vollkommen registriert. Ein Winseln zerschliss die Decke der rauschenden Drohkulisse. Er erschrak. Und flüchtete. Zurück zu ihr. Zurück zur Liebe. Zurück zum Glück. Er war stark genug für sie! Wieder zurück, an die Straße, am Highway entlang, ein kurzes Stück über die Brücke, an der Baustelle entlang, die Ausfahrt zum Motel hinunter. Er erstarrte erst auf dem Motel-Parkplatz. Der Mustang war weg. Sein Mustang war weg! Sie war weg. Seine Tara war weg! Kommentare
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KommentareMi, 13.03.2013 07:34
leider geil!!!
Fr, 09.11.2012 07:37
Hallo Herr Nilsen,
da ich d
ie Bande auch schon kennenlern
en, und mit ihren eigenen Mitt
eln erfolgreich schlagen [...]
Fr, 05.10.2012 15:27
ist das geil!!!!!!
XD made my
day!
Freue mich grad n bis
chen, nicht zum St.Pauli-Cente
r zu müssen und bange gl [...]
Sa, 21.04.2012 22:12
Du solltest deinen Kopf mal ei
ner gründlichen Untersuchung b
eim Spezialissten unterziehen!
Was du alles mit "Nazis [...]
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