Als er den mörderischen Mustang auf den Seitenstreifen lenkte, wunderte er sich über all das Blut.
Der Fuchs, auf den er vor gut 12 Jahren mit 160 nächtlichen Stundenkilometern auf der Autobahn zwischen Bremerhaven und Cuxhaven traf, hatte nur ein winziges Fellknäuel und eine zerschmetterte Frontschürze hinterlassen. Wegen fehlender Blutspuren bekam er kein Geld von der Versicherung.
"Wow!" murmelte sie.
"Hoffentlich ist nix am Auto." murmelte er.
"Soviel Blut."
"Gut, dass wir das Verdeck geschlossen haben."
"Die ganze Scheibe ist voller Blut."
"Muss ich jetzt bei der Leihwagen-Firma anrufen?"
"All das Blut. Soviel auf einmal hab ich schon lange nicht mehr gesehen!"
"Kacke, müssen wir jetzt die Cops rufen?"
"Wie eine Blutfolie auf der Scheibe!"
"Und für die Versicherung müssen wir das Vieh einpacken!"
"Blut ist echt krass!"
"Das kann doch nicht sein, dass das Vieh so heftig blutet."
"Bluuuuuuuuut!"
"Nee, da stimmt was nicht! Soviel Blut kann unmöglich aus so nem dürren Viech raussuppen!"
"Bluuuuuuuhuuuuuuuuuuut!"
"Das gibt es nicht! Was ist das denn? Ne Tüte?"
"Rotes Blut!"
"Alter, wie pervers ist das denn? Die haben dem armen Vogel ne Tüte mit Blut an die Pfote gebunden!"
"An die Paddel!"
"Was?"
"Das heißt nicht Pfote, das ist ein Paddel!"
"Was quatschst Du da? Die Schweine haben ne Bluttüte an einen Pelikan gebunden. Wie degeneriert kann man nur sein?"
"Kinder halt!"
"Was für Kinder sind das denn, bitte?"
"Kinder eben!"
"Sag mal, tickst Du eigentlich noch richtig?"
"Also früher bei uns aufm Dorf…"
"Ey, das hör ich mir jetzt nicht an! Da spiel ich nicht mit."
Er packte die bedauernswert geschundene Kreatur, die, Tüte sei Dank, im Scheibenwischer hängengeblieben war und schleuderte sie in die Dunkelheit abseits des Highways.
"Steig ein, wir fahren."
"Mann, bist Du 'n Arsch, wir müssen das Wesen ordentlich bestatten!"
"Bitte?"
"The circle of life!"
"Fuck you!"
Er packte die bedauernswert geschundene Kreatur, zog sie mit festem Griff zu sich heran und ließ seine Zunge ihren bereitwillig geöffneten Mund penetrieren. Die ihrige machte devot den Weg in die Tiefe frei, keinerlei Hindernis. Dann biss sie zu. Sie vergrub ihre Schneidezähne in seine Zunge. Während er versuchte, sie von sich wegzustoßen, schmeckte er die metallische Süße seines Bluts, das langsam ihren Mund erfüllte. Dann gab sie seine Zunge frei.
"Guter Kuss!" grinste sie, bevor sie schluckte. Ein kleines rötliches Rinnsal kroch ihren rechten Mundwinkel im Scheinwerferlicht herunter.
"Scheiße!", lispelte er zischend. "Ein verdammt guter Kuss!"
Seine Zunge brannte und die Blutung stoppte noch nicht. Er verschluckte sich an seinem eigenen Blut, hustete rote Fäden und besudelte sie.
"Geil, noch mehr Blut!"
"Du bist echt nicht normal!"
"Und Du viel zu sehr!"
"Du weißt doch gar nichts!"
"Dein Kostüm ist normal!"
"Ein normales Kostüm würde Dich nicht heiraten!"
"Liebst Du mich?"
"Woher soll ich das denn bitte wissen?" Jeder s-Laut machte ihn fertig. Jedes s entfachte ein neues Feuer. Jedes s spuckte Blut.
"Aber Du hast doch gesagt…"
"Ich glaub, ich brauch einen Doktor!" Er vermied das Wort "Arzt".
"Ich verbinde Dir Deine Scheiß-Zunge, dann hört das von allein auf!"
Ein paar Minuten später war der Verbandskasten geplündert. Der Zellstoff des Verbands rieb unangenehm am Gaumen. Er musste sich stark konzentrieren, um den Brechreiz niederzuringen. Bloß nicht kotzen. Bitte nicht kotzen! Er hasste es zu kotzen. Das letzte Mal hatte er mit 18 gekotzt. Nach einer zu Dreiviertel geleerten Flasche Jim Beam, mit deren unüberlegten Konsum er seinem müsli-gefüllten Magen keinen großen Gefallen tat. Die "Roseanne"-Folge, die er begleitend schaute, war witzig wie nie zuvor. Da war er auch noch in Darleen verknallt. Und ein Schulfreund hatte im mütterlichen Wohnzimmer fast seine damalige Freundin geknallt, während er in seinem Kinderzimmer haarscharf an einer Alkoholvergiftung entlangschrammte. Zuvor noch wurde er mit Kälteschocks unter dem Strahl einer eiskalten Dusche in der Badewanne aus dem Gröbsten und an einem Rettungswageneinsatz vorbei behandelt. Das hatte er dem intervenierenden Freund zu verdanken, der an diesem versoffenen Abend seinen fast leblosen Körper in der offen stehenden Wohnung entdeckte. Dieser wiederum übergab nach der Wiederbelebung das alkoholschwangere Stück Mensch in die Obhut der Freundin. Diese wiederum fühlte sich alsbald überfordert mit einem in früheste Kindheitsphasen abdriftenden Freund und verständigte wiederum den erstgenannten Schulfreund, um ihn als moralische Stütze zu verpflichten. Dieser wiederum versuchte, sie zu ficken. Ein Zufall wiederum machte die Ausführung des Aktes zunichte. Als stimmungstötend erwies sich der kurz aus dem Delirium erwachte Whiskey-Missbraucher, der nur mit einem weißen T-Shirt bekleidet plötzlich durchs Wohnzimmer weiter auf den Balkon stürmte um mit wehendem Gehänge die Nachbarschaft lautstark auf seine Wiederauferstehung von den Toten aufmerksam machen zu versuchen.
Demütigendes Detail: Die vermeintliche Vollständigkeit dieser Geschichte ergab sich erst nach gut zwei Jahren reger Recherche und zahlreichen Verhören aller Beteiligten. Das war sein erster und einziger Filmriss. Und vor allem an den Kotzvorgang konnte er sich nicht erinnern. Nur Indizien überführten ihn. Eine Kotzlache an der Wand hinter der Wohnzimmertür.
Das war das letzte Mal, dass er kotzte - und zum Glück war die unmittelbare Aktion nie Teil seines unmittelbar verfügbaren Gedächtnisses geworden. Zum Glück!
"Fahr weiter, ich bin müde!"
Er war froh, dass sie den nun der anonymen Verwesung preisgegebenen Pelikan vergessen hatte. Und er war froh, dass er nun einen guten Grund hatte, nichts mehr sagen zu müssen. Das Scheibenwasser reinigte grob die Durchsicht nach vorn. Er fuhr endlich wieder.
"Ich glaub, ich muss Dir was erzählen!"
Er grunzte.
"Aber nicht jetzt!"
Er grunzte.
"Gut, dass Du jetzt da bist!"
Er grunzte.
"Das ist richtig gut!"
Er grunzte.
"Diese Geschichte hier ist komplett daneben!"
Er grunzte.
"Ich bin komplett neben der Spur."
Er grunzte.
"Wir sind komplett neben der Spur!"
Er grunzte.
"Und es ist gut, dass ich "wir" sagen kann."
Er grunzte.
"Eigentlich ist mit uns alles egal!"
Er grunzte.
"Wenn wir beide nicht die gleiche Sprache sprechen würden, wenn wir beide taubstumm wären - und blind, dann wär's trotzdem gut, dass Du jetzt da bist!"
Er grunzte.
"Ich will Dich lieben!"
Er grunzte nicht.
"Hoffentlich schaff ich das! Nur noch einmal!"
Er schaltete das digitale Satellitenradio ein.
Ohne etwas sagen zu müssen, wussten sie, dass das ihr Lied werden würde.
Aber ich würde eher dahingehend tendieren, aus naivem Realismus eines Träumers einfältigen Narzismus eines Lebensverweigerers zu machen.
Da bleibt nur noch die schreiende Frage nach Stil.
Was genau war früher eigentlich besser?
Was früher besser war? Das Streben nach erzwungenem Glück und überspielter Zufriedenheit hat nicht so aus den Texten geschieen.
Vielleicht ist das für Außenstehende nicht wirklich ersichtlich, aber das erfolgreiche Überspielen von Zufriedenheit ist eine große energetisch-logistische Herauforderung.
Der Begriff "Erzwungenes Glück" ist nicht jedem ein negativer Archetyp.
Jaja, in naivem Realismus ist immer ein unfreiwilliges Quäntchen bewertender Einfältigkeit inbegriffen.
Man weiß es nicht, ne?
Und vielleicht ist "Herausforderung" durch "altersgemäße Entwicklungsaufgabe" abzulösen.
Was gesagt werden will: Explizit auf dieses Medium hier abzielend, sind die Geschichten / Texte nicht mehr in sich geschlossen, sondern mehr oder minder stringent zusammengeklöppelt, fortlaufend asphaltiert.
Und gleichzeitig spielt nun nicht mehr das unwillkürlich Plakative eine Rolle, sondern mehr und mehr ein zarter Subtext, der eben durch Stil und -bruch seine Saat zart ausbreitet.
Oder: Das Mitschwimmen im Sog der Spießigkeit kann nur eine im Kontext ultrakurze Momentaufnahme sein, da hier kein Dümpeln vor dem Schwarzen Loch möglich, sondern ein Hineingerissenwerden ins selbige Naturgesetz ist - und eben keine soziale Verhaltensempfehlung!
So ist erzwungenes Glück und überspielte Zufriedenheit eine streng temporär limitierte Momentaufnahme.
Es gibt auf jeden Fall noch ordentlich aufs Maul!
(vgl. Michel Houellebecq)
Und was bedeutet denn: "altersgemäße Entwicklungsaufgabe" ? Wer stellt denn eine Liste auf, welche Aufgaben man in welchem Alter erfüllen muß? Das ist der gleiche Schwachsinn wie: ein Baum pflanzen, ein Haus bauen und einen Mann killen (Willkür meinerseits).
Mir fehlt die erfrischende Überraschung eines Quertreibers.