Er war 12 Jahre alt, als er seinen Vater kennenlernte. Handschriftliche Korrespondenz war dem ersten Treffen vorausgegangen. Neugieriges Abtasten, nachdem seine Mutter ihm die väterliche Adresse preisgegeben hatte. Die Initiative ging vorher von ihm aus, einem 11-jährigen, längst in eine versponnene Lebensstruktur, euphemistisch: „Religion“, gepresst. In der eigenwillig restriktiven Interpretation einer „Glaubensgemeinschaft“ namens Zeugen Jehovas fehlgeleitet.
Sein Vater! Er hatte einen Vater.
Seine Mutter hatte bewusst vermieden, seinen Verursacher in der Geburtsurkunde aufführen zu lassen.
Sein Vater hatte bewusst vermieden, den ihm rechtlich zustehenden Unterhalt in voller Höhe zu überweisen. Seine Mutter, so behauptete sie ihm gegenüber, hatte seinem Vater das durchgehen lassen, um die schlummernden Wurzeln des Vater-Sohn-Verhältnisses nicht zu vergiften, nicht im Keim zu ersticken. Doch rechnete sie insgeheim damit, dass sein Vater das schon selbst hinbekommen würde, dass es ihm gelingen würde, das Verhältnis zu seinem Sohn selbst zu zerstören. Sie würde Recht behalten.
So kam er aus Cuxhaven mit dem Zug über Harburg am Hamburger Bahnhof an. Stieg dort um in die S-Bahn, die ihn zum S-Bahnhof nach Bergedorf bringen sollte.
Er wusste bereits, dass er zwei jüngere Halbschwestern hatte. Sie waren im 5-Jahres-Takt (0,2 bpy – beats per year) nach ihm in die Welt gevögelt worden. Geboren von drei unterschiedlichen Frauen.
Der gemeinsame Nenner: Ein Vater.
Ihm war das als 12jähriger noch ziemlich egal. Vielmehr hatte es zu jener Zeit und in seiner Welt etwas sehr Exotisches, es hatte etwas von Abenteuer.
Es war etwas, das ihn von seiner peer group unterschied. Es ihm erträglich machte, anders zu sein als die anderen. Es ihn gar ab und zu vergessen machte. Eine Spur von Normalität.
Und es war die frühe, aber nicht bewusste Chance, einen Gegenentwurf zu dem groß- und mütterlich verordneten Absolutismus der Zeugen-Jehovas-Welt anzubieten. Ein Ausstiegs-Angebot aus einer faschistischen Religions-Verklärung. Vermeintlich.
Dass sowohl die totalitäre Verblendung als auch die vermeintliche Exit-Alternative nur Illusionen sein würden, konnte einem 12jährigen kurz vorm Bergedorfer S-Bahnhof nicht bewusst sein. Gut so!
Er stieg aus. Erkannte seinen ... Vater. Von Fotografien, die im Vorfeld von Papa beigesteuert wurden.
Neben dem neu gewonnenen Vater zappelte ein kleines 2jähriges Mädchen.
„Wo ist er denn? Ich kann ihn nicht sehen!“ hielt sie nach ihm Ausschau, obwohl er ihr bereits gegenüber stand und sagte:
„Ich bin das!“
Sie schaute ihn an. Schaute sich noch einmal um, ob da nicht doch irgendwo eine bessere Alternative herumlungern würde.
Und dann nahm sie ihn als ihren großen Bruder an. Nahm von ihm Besitz.
Ein unbekanntes warmes Gefühl durchströmte ihn.
Ein großes Glück. Plötzlich hatte er eine echte Familie. Mit Vater. Mit Schwester. Die ihn betobte, an ihm herumzerrte und –riss. Die Interesse an ihrem großen Bruder hatte. Und Stolz auf ihn war. Ein paar Jahre später würde er seine zweite Schwester kennenlernen. Plötzlich war er Bruder! Eine echte Alternative, eine echte Möglichkeit von Zuhause.
Dass er nun Wanderer zwischen zwei scheinbar antagonistischen Welten war, nahm er in Kauf. Er genoss sogar die zunächst noch regelmäßigen Fahrten mit dem Zug in seine Zweitfamilie. In ein Leben, das Hoffnung in sich barg. Mit Familienzusammenhalt. Mit einer Stiefmutter, die ihn als Menschen annahm und wertschätzte.
Mit einem Vater, der stolz war, einen Sohn zu haben. Der neugierig auf ihn war und ihm auch so etwas wie Wertschätzung entgegenbrachte.
Er nahm weiter in Kauf, dass sich sein Vater und seine Mutter diametral gegenüber standen. Hier die vereinsamte Frau, die sich und ihren Lebenssinn, ihn, von einer herrischen Mutter tyrannisieren ließ, während sie sich in die rigiden Strukturen der Sekte der Zeugen Jehovas ergab und ihn opferte. Dort sein freier Vater, der als freiberuflicher Gärtner die Regeln für sein Leben selbst machte, mit einer Frau zusammenlebte, die einen Sohn mitbrachte und die Mutter seiner Halbschwester war. 90er Jahre Patchwork. Hunderte Platten, in deren Covern er sich verlief.
Freiheit. Musik, die er entdecken konnte und die prägte. Unabhängigkeit von Strukturen. Und Vertrauen. Und ein Garten. Und Menschen. Menschen, die ihn liebten und respektierten. Die ihn das sein ließen, was er war. Freiheit mit Garten, ein Zuhause.
Schwierig allerdings: Er hatte zwischen den Welten zu vermitteln. Vater und Mutter hatten nie eine gemeinsame Ebene der Kommunikation entwickelt. Musste etwas Bürokratisches (wegen ihm) geregelt werden und sein Vater rief an, gab Mutter, ohne eine große Diskursanstrengung unternommen zu haben, den Hörer an ihn weiter. Und er übersetzte zwischen den erwachsenen Menschen, die nicht miteinander reden konnten.
Das war Normalität.
So wandelte er zwischen zwei Welten und hatte die Verantwortung, beide für sich am Laufen zu halten, zwischen ihnen zu moderieren.
Instinktiv war er sich bewusst, dass er selbst der Grund für diesen Riss war. Dass es ohne ihn keine Schnittmenge zwischen den Welten geben würde. Dass er zwei Menschen, die sich perfekt hassten, zwang, sich miteinander auseinanderzusetzen. Ohne ihn wär der Riss nonexistent geblieben. Er, der Ausdruck eines zutiefst empfundenen Risses zwischen zwei Menschen. Er war der Riss.
Er war verantwortlich, chief in charge. Schuld.
Und doch war er in der Lage, die Brücke über den Riss, die Schlucht zu schlagen. Sühne.
Es war dann irgendwann ausgerechnet sein Vater war, der diese Brücke zerstörte. Gerade als sein Sohn zum ersten Mal deutlich seine Hilf- und Haltlosigkeit im Leben artikulierte und endlich ein Zuhause benötigte. Eine große Anstrengung unternahm, den massiven Anker über die Bootswand zu hieven, in der Hoffnung, er würde an der Stelle angekommen sein, wo der Anker Halt finden würde. Genau dann zog der ehemalige Ficker seiner Mutter alle einst artikulierten und sogar schriftlich fixierten Angebote von Liebe, Wertschätzung und Zuhause zurück.
Mit einer Geste und einem Satz.
Wieder am Bergedorfer S-Bahnhof, zu dem sein Sohn aus St. Pauli gereist war.
Vater hob die rechte Hand, deutete nickend auf den geringen Abstand, den er zwischen Zeigefinger und Daumen einquetschte und formulierte: „Genau soviel haben wir gemeinsam!“
Der Anker prallte ungebremst auf die steinerne Brücke, die sofort barst. Ein klaffender ausgefranster Riss durchzog den Anker von oben nach unten.
Die Ankerkette, die er sich um den Leib gewickelt hatte, schnürte ihn ein, ließ ihn wanken und schwanken. Die rostigen Kettenglieder rissen tiefe Wunden und vergifteten sein Blut.
Narben, die nie heilten.
Er hatte sich in seinem Leben nie gewagt, den Mann „Vater“ oder gar „Papa“ zu nennen.
Es gab keine Freiheit mit Garten. Nicht für ihn.
Danke, Papa!
Da war er 26 Jahre alt.
Er wehrte sich indes vehement gegen die Gewissheit, die immer stärker durch seine inneren Barrieren, die er um sein Unbewusstes errichtet hatte, hindurchsickerte. Die Gewissheit hatte eine urtümliche Kraft, durch die Schwachstellen in den alten Mauern nach außen zu dringen. Diese Kraft zog sie aus einem einzigen Ziel: In sein Bewusstsein vorzustoßen.
Die Gewissheit, dass er seine Lebensberechtigung nicht aus sich selbst zog. Nicht ziehen konnte. Er hatte es nicht gelernt.
Er wollte, er konnte diese Gewissheit nicht zulassen, wehrte sich mit zunehmendem Lebensalter immer stärker gegen ihre Rechtmäßigkeit. Er funktionierte als Diener, Knecht, Sklave von Bedürfnissen anderer, von denen er sich abhängig machte. Auf sich zu achten oder gar etwas von ihm selbst zu hören, hatte er nicht gelernt. Er konnte dienen. Und gestaltete seine zwischenmenschlichen Beziehungen für sich zu einer Abhängigkeit vom und zum Wohle anderer.
Zugleich wunderte er sich schmerzlich, dass seine Suche nach Zuhause – dieses Gefühl von Heimat – nicht befriedigt wurde. Und auch wenn sich in ihm ein neues Bewusstsein artikulierte, dass die Ursachen für die Erfolglosigkeit der Heimatsuche in ihm selbst lagen, bedrohte das seine Existenz und vor allem seine handlungs- und selbstaktualiserungsstrukturelle Ausprägung in höchstem Maße.
Irgendwann schrieb er in sein kleines grünes Lebens(lügen)büchlein:
„Mir fehlt im Moment die Möglichkeit der Weiterentwicklung. ich habe das Gefühl, ich wär kontraevolutionär unterwegs.
Ich hänge in gewisser weise in meiner Vergangenheit fest. Neige dazu, einiges zu verklären (wie es der menschliche Organismus in seiner psychologischen Struktur nun mal vorgesehen hat). Wenn die Verklärung funktionieren würde und ich nicht solch eine krasse Verarbeitungs-Maschinerie in mir hätte, die immer wieder seziert und neu bewertet - eine absolut und ungesund hochfrequente Aktualisierungstendenz - dann hätte Vergangenes nicht solch einen atonalen, fast dissonanten Einfluss auf meinen ganz eigenen Grundton.
Nun ist die Selbstaktualisierungstendenz in sich ein absolut notwendiger Baustein, der erst Entwicklung ermöglicht - also ganz im Sinne einer lebensimmanenten Evolution.
Bei mir nun liegt wohl ein kleiner Strukturfehler vor, da meine höchsteigenen Selbstaktualisierungstendenzen zu großflächige Kapazitäten belegen und somit kontraevolutionäres Potential evozieren.
Das hat nun eine interessante Auswirkung auf das individuenimmanente Dreieck aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Gegenwart definiert sich nun mal als Quotient aus Zukunft und Vergangenheit - meine Hypothese.
Solange der Zähler größer als der Nenner ist, sprich der Quotient über 1 liegt, ist die Evolution, also die Entwicklung positiv gerichtet.
Quotient gleich 1 bedeutet Stillstand.
Quotient kleiner 1 bedeutet negative Evolution, Kontraevolution also.
Bei mir liegt der Quotient deutlich unter 1, da die Vergangenheit nun mal aktuell einen größeren Impact aufweist als die Zukunft (respektive Planung eben jener).
Ganz einfache, profane Zielformulierung, die sich mir nun aufdrängt:
Gestalte die Zukunft.
verleihe ihr mehr spezifisches Gewicht.
Also muss ich mit mir nur noch eine verbindliche Zielvereinbarung treffen - und dann wird alles gut und glücklich!
Zielvereinbarung: Finde die Möglichkeit von Zuhause!“
Die Ölfarbe des Gemäldes seiner Zukunft, das aussagte, dass die Möglichkeit von Zuhause nicht mehr im Diesseits zu finden war, zeigte weitere Risse, als er neben ihr auf dem Bett in einem einsamen Motel auf Key Largo lag und mit ihr schwieg.
Dann flog die Tür auf.